Zwischen Buchrücken und Haltung
- Joana Zimmermann

- 23. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juni
Warum Freiwilligendienst mehr ist als helfen – und was Bücher damit zu tun haben
von Joana Zimmermann
Diese Bücher sind keine Feel-Good-Empfehlungen. Sie wollen nicht beruhigen, sondern bewegen. Und das ist gut so. Denn wer sich freiwillig engagiert, verdient mehr als warme Worte – nämlich Denkräume, Perspektiven, Reflexion. Bücher helfen, sich selbst zu hinterfragen, andere besser zu verstehen und politischer zu handeln – im Kleinen wie im Großen. Wer Worte liest und versucht zu verstehen, ist mächtig. Wissen ist Macht, und der Zugang zu Büchern ein Privileg, das wir viel zu selten als solches wahrnehmen.
Freiwillig heißt nicht neutral. Freiwillig heißt: Ich habe die Wahl – und ich entscheide mich, hinzusehen. Und genau dafür gibt es Bücher.
Für mich gibt es Bücher, die liest mann und vergisst sie wieder. Und dann gibt es Bücher, die brennen sich in meinen Kopf ein – weil sie mir etwas zeigen, das ich vorher noch nicht gesehen habe. Als ich kurz vor meinem Freiwilligendienst Identitätskrise von Alice Hasters geschenkt bekam, war ich ehrlich gesagt nicht auf das vorbereitet, was mich erwartete. Eine ganze Zeit lang – und bis heute – denke ich über Hasters’ Perspektiven nach, zum Beispiel ihre Kritik an einem überhöhten Individualismus als gesellschaftlichem Konstrukt, das unser Zusammenleben zerstört. Mein Kopf, mein Denken – und ehrlich gesagt auch mein Selbstverständnis als „doch eigentlich woker“ Mensch – dampfen seit letztem Jahr.
Seit ich meinen Freiwilligendienst begonnen habe und mit anderen Freiwilligen ins Gespräch gekommen bin, stelle ich mir oft große gesellschaftliche und sehr persönliche Fragen: Man will helfen, sich einbringen, “etwas Gutes“ tun. Aber was bedeutet das überhaupt? Wer definiert, was Hilfe ist? Wer hilft wem – und wie, wenn man jemanden nicht finanziell unterstützen kann? Und wie verhalte ich mich, wenn ich plötzlich merke, dass ich Teil eines Systems bin, das eben nicht immer fair ist? Reicht mein Aktivismus, wenn ich nur schreibe?
Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist eines: Für mich wurden Bücher zu einem Weg, diese Fragen nicht nur theoretisch zu stellen, sondern emotional und politisch zu durchdringen. Deshalb möchte ich einige Titel teilen, die mir auf diesem Weg geholfen haben – Bücher, die wach machen, unbequem sind, aber auch empowern. Literatur, die sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibt, sondern neue Perspektiven eröffnet.
Beginnen wir mit Alice Hasters. Ihre Bücher Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen – aber wissen sollten und Identitätskrise sollten Pflichtlektüre für alle sein, – nicht, weil sie moralisch belehren, sondern weil sie klug und ehrlich beschreiben, was es heißt, in einer Gesellschaft zu leben, die vorgibt, farbenblind zu sein – und es doch nie war und nicht ist. Für mich war Hasters’ Perspektive ein Augenöffner: nicht abstrakt, sondern konkret, nicht anklagend, sondern klärend.
Ein weiteres Buch, das mich im vergangenen Jahr besonders geprägt hat, ist Black as Fuck von Michael Harriot. Für mich eines der besten Bücher, die ich gelesen habe – und ganz ehrlich: Ich wünschte, es wäre Schullektüre im Geschichtsunterricht. Harriot schafft es, die Geschichte Schwarzer Menschen in den USA mit solcher Wucht, Ironie und analytischer Schärfe zu erzählen, dass man beim Lesen gleichzeitig lacht, schluckt und plötzlich innehält. Wenn wir über Kolonialismus, Rassismus oder Sklaverei sprechen, brauchen wir genau solche Texte, die nicht distanziert dokumentieren, sondern durchdringen.
Einen ganz anderen, aber ebenso wichtigen Ton schlägt Abolition. Feminism. Now. an, geschrieben von Angela Y. Davis, Gina Dent und anderen. Das Buch zeigt eindrücklich, dass Feminismus und politische Befreiung nicht voneinander getrennt gedacht werden können. Es war für mich ein Denkanstoß: Vielleicht sollten wir nicht nur Menschen helfen, die unter einem ungerechten System leiden – vielleicht sollten wir das System selbst infrage stellen.
Ein Klassiker unter den politischen Stimmen ist Audre Lorde. Ihre Essaysammlung Sister Outsider hat mich immer wieder dazu gebracht, mich selbst zu fragen: Für wen spreche ich? Für wen kämpfe ich – und wessen Stimme überhöre ich vielleicht, obwohl ich es gut meine? Lorde ist keine leichte Lektüre. Aber eine notwendige. Sie schreibt nicht, um zu gefallen. Sie schreibt, um zu befreien. Sich. Und uns.
Ebenso politisch – wenn auch literarischer – ist Mädchen, Frau etc. von Bernardine Evaristo. Dieses Buch zeigt Schwarze Frauenleben in Großbritannien in einer sprachlichen Dichte, wie ich sie selten erlebt habe. Es geht um Klassismus, Queerness, Genderrollen, Bildung, Herkunft – und doch wirkt nichts konstruiert. Evaristo schenkt ihren Figuren eine Würde, die uns als Lesende berührt und herausfordert. Dieses Buch akzeptiert keine einfachen Identitätszuschreibungen – und lädt uns ein, das auch nicht mehr zu tun. Es ist ein schönes Buch, in dem man aus verschiedenen Perspektiven in die Schuhe anderer Figuren schlüpft, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch verbindet sie, dass sie Frauen sind. So sehe ich auch unseren Freiwilligendienst: Wir arbeiten in unterschiedlichen Einrichtungen, kommen aus verschiedenen Kontexten – aber was uns eint, ist, dass wir alle Freiwillige sind.
Ein anderes literarisches Schwergewicht ist The Color Purple von Alice Walker. Wenn du dieses Buch nur als Film kennst oder das wundervolle Musical mit Jennifer Hudson und Cynthia Erivo (!!) – es lohnt sich trotzdem, das Buch zu lesen. Es ist vielschichtiger, bewegender, und Celies Geschichte von Angst, Hoffnung und der langsamen Rückeroberung ihres Lebens ist bemerkenswert. Dieses Buch fördert Mitgefühl und Sensibilisierung – und bleibt lange im Gedächtnis.
Und dann: Max Frisch. Vielleicht etwas unerwartet in dieser Liste, aber für mich ein absolutes Muss. Biedermann und die Brandstifter ist ein Stück, das viele aus meiner Schulzeit gehasst haben – vermutlich, weil sie die Aussage zu offensichtlich fanden. Aber genau darin liegt die Kraft. Denn Frisch hält uns den Spiegel hin: Die Katastrophe ist sichtbar – doch wir Menschen neigen dazu, sie zu verdrängen. Aus Höflichkeit. Aus Angst. Aus Bequemlichkeit. Gerade angesichts rechter Umfragewerte, wachsendem Faschismus und einem politischen Klima, das viele Freiwillige verunsichert, ist dieses Buch fast unheimlich aktuell. Frischs Werk macht deutlich, wie gefährlich es ist, extremistische Tendenzen zu ignorieren. Viele Menschen schauen weg, nicht aus Bosheit, sondern weil sie sich selbst in Sicherheit glauben und nicht erkennen, dass das, was vermeintlich nur andere betrifft, letztlich irgendwann alle bedroht.
Für mich sind Bücher im Freiwilligendienst keine Nebensache. Sie sind Haltung, Werkzeug, Spiegel. Nicht alle Bücher tun gut – aber sie tun etwas. Und manchmal ist das viel wichtiger als jede gute Absicht.




Ich habe damals in der Schule Andorra von Max Frisch gelesen und fand es auch genial, weil es auf einfach, leicht verständliche und doch starke Weise dir Bedrohlichkeit des Faschismus in Worte und eine Geschichte fasst. Eine Wahrnung in Form einer Geschichte an uns alle. Und Galileo Gelilei von Bertold Brecht fand ich auch sehr spannend, weil es sehr schön die hochkomplexe Frage zwischen Wahrheit und Ideologie (in dem Buch in Form der Kirche) aufmacht. Frage ist dabei eigentlich der Falsche Begriff, denn es geht um Deutungshoheit, Macht und Veränderung der Gesellschaft, der mit Progressivität gegenübergestanden werden muss. Diese Macht sollte man sich nicht vom ewig gestrigen nehmen lassen, sondern mit einer Positivität und Offenheit gegenübertreten.